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AutorenbildLisa

Sechs Monate Deutschland. Ein halbes Jahr Corona.

Aktualisiert: 4. März 2022

März 2020


Ich liege auf dem Bett im Gästezimmer meiner Eltern und starre an die Decke. Vor 24 Stunden war ich noch in Buenos Aires, vor 48 Stunden habe ich meinen Flug gebucht und vor 72 Stunden hatte ich absolut keine Ahnung, dass ich nun hier liegen würde. Doch dann kam der Gewinn in der Lebens-Lotterie. Ein Flugticket der Corona-Airline. Und das alles, obwohl ich gar keinen Lottoschein gekauft hatte.


Und nun liege ich hier. Überfordert mit allem. Überfordert mit der Vorstellung einer globalen Pandemie, etwas, das wir alle so noch nie erlebt haben. Ängste, Sorgen. Die schmerzende Stelle im Herzen, an der in den letzten Monaten ab und an ein klitzekleines bisschen Heimweh saß, auf der sich jetzt eine Tonne Fernweh breit macht. Der abrupte Stopp meiner Reise. Die Erinnerungen an die Nacht vor ein paar Tagen, in der ein sexueller Übergriff eines LKW Fahrers, meinen positiven Blick auf die Menschen trübte.


Es gibt Nächte, in denen ich aufschrecke, weil ich denke, dass jemand im Zimmer ist. Nächte, in denen ich nicht mit dem Gesicht zur Wand schlafen kann, weil es mich zu sehr an jene Nacht erinnert, in der ich meinen Körper so eng an die Wand gepresst habe, um den Körper des LKW Fahrers nicht an meinem spüren zu müssen. Es ist, als wäre er da, als würde ich seinen Zigarettenatem in meinem Nacken spüren. Stunden lang liege ich wach, versuche mich zu beruhigen, meine Gedanken zu lenken. Ich bin müde und fühle mich leer.


Es ist zu viel. Zu viele Prozesse, die in mir stattfinden, zu viele Emotionen, die entweder im absoluten Überschuss da sind oder total betäubt zu sein scheinen. Ich schreibe meiner Therapeutin, die sofort antwortet und mir einen Termin für eine Video-Therapiestunde gibt. Und dann ziehen die Wochen ins Land. Tage, die immer gleich aussehen. Früh aufstehen, Workout, dann eine Runde joggen, duschen, frühstücken, ein paar Stunden für die Unternehmen meiner Familie arbeiten, warten, schlafen. Und repeat.


April 2020

Es gibt Tage, an denen fühlt es sich an, als wäre mein Lachen weg, als würde sich ein dunkler Nebel um mich rum ausbreiten, der mir die Luft zum Atmen nimmt. Es tut mir weh, die sorgenerfüllten Blicke meiner Eltern und die Versuche, mit mir zu sprechen, mit Schweigen zu erwidern. Aber es geht nicht. Ich komme mir vor, wie ein Ball in einer Waschmaschine, der herum geschleudert wird, ohne Kontrolle und ohne zu wissen, wo es lang geht.


Ich gebe ein Interview für den WDR, das ich vor ein paar Wochen bereits von Ushuaia aus via Skype gehalten habe. Nun steht der Journalist bei meinen Eltern im Wohnzimmer, desinfiziert das Mikro, das ich mir selber anlegen muss und stellt die Fragen nochmal. Ein paar Tage später sitze ich beim WDR Siegen im Studio und gebe ein live Interview. Und dann knackt die Spendenaktion die 10.000€ Marke. Ein unfassbarer Milestone, der mir mein Lachen zurück gibt.


Mein lieber Freund Pablo ruft für mich mehrmals in Buenos Aires an, um zu fragen, wie es um meine Anzeige steht, die ich wenige Stunden vor Verlassen des Landes getätigt habe. Ein Polizist sagt ihm, dass wir es in ein paar Monaten nochmal versuchen sollen. Corona hat das gesamte Land in einen künstlichen Winterschlaf versetzt. Auch Litte Black Panther, mein Fahrrad, hängt irgendwo zwischen Sierra Grande und Buenos Aires fest.


Mai 2020

„Meinst du ich kann dich besuchen? Darf man das?“ ich telefoniere mit meiner besten Freundin aus Hamburg. Seit knapp zwei Monaten bin ich nun schon hier und habe gerade mal einen Freund gesehen. Es ist kein Zurückkommen wie sonst, mit Welcome Back Party und langen, innigen Umarmungen.


Und dann packe ich einfach meinen Rucksack, steige in den ICE und fahre nach Hamburg. Fast vier Wochen verbringe ich mit meinem absoluten Lieblingsmenschen Marie. Es ist wie eine warme Umarmung der Seele, wie ein Urlaub von der Pause meiner Reise.

Und ganz langsam verstehe auch ich, dass ich dieses Jahr nicht mehr nach Südamerika zurückkehren werde. Während in Deutschland die Geschäfte, Fitnessstudios und Kinos wieder aufmachen, ist das normale Leben in ganz Argentinien immer noch komplett lahm gelegt.


Juni 2020

Zurück in Laasphe schreibe ich meinem alten Chef, ob sie zufälligerweise eine Grafikerin brauchen. Das Glück ist auf meiner Seite, denn sie brauchen eine neue CI und theoretisch könnte ich morgen anfangen. Aber ich will langsam in Berlin wieder ankommen, meine Freunde sehen, die Stadt und den Sommer genießen, bevor ich wieder 40 Stunden arbeite.


In Berlin zu sein ist absurd und gleichzeitig so schön. Es fühlt sich gut an, die Wohnung meines Onkels für ein paar Wochen nur für mich zu haben, meinen eigenen Tagesablauf zu haben und auch mal mit mir alleine zu sein.


Die LKW Flashbacks werden nicht weniger, aber ich kann besser damit umgehen. Jede Woche gehe ich zur Therapie und arbeite Tag für Tag an mir.


Juli 2020

Back to life, back to reality, zurück in die Arbeitswelt, zumindest so lang, bis diese Welt irgendwie wieder normal ist. Mit dem ersten Arbeitstag werden die Wochen kürzer. Gefühlt hat jeder Tag nur noch 12 Stunden und ich bastel mein Leben wie ein Gerüst um die acht Stunden Büro herum.


August 2020

Endlich! Nach fünf Monaten des Bangens ist mein Fahrrad ist es in den Händen meines Kumpels Chechu in Buenos Aires. Mir fällt ein riesen Stein vom Herzen. Und wiedermal habe ich so ein verdammtes Glück, dass ich durch verrückte Zufälle einen absolut wunderbaren Menschen kennen gelernt habe, der in Buenos Aires wohnt und mir helfen kann. Die Welt ist voller guter Menschen!


September 2020

Sechs Monate Deutschland, sechs Monate Corona. Ich bin mir bewusst, wie viel Glück ich habe, deutsch zu sein. Man mag von diesem Land und der Politik halten, was man will, aber wenn man mal in anderen Ländern war, gesehen hat, was dort vor sich geht, merkt man immer wieder, wie Deutschland einfach funktioniert. Zwar auch nicht immer zu 100%, aber Sachen haben ihren geregelten Lauf und das merkt man vor allem in harten Zeiten, wie jetzt.


In meinem Alltag vergesse ich oft, dass wir in Zeiten einer globalen Pandemie leben. Ich gehe ins Fitnessstudio, ins Büro, treffe meine Freunde in Restaurants, im Park und in Bars oder im Freiluftkino. Fahre am Wochenende mit dem Fahrrad durch die Gegend und vor wenigen Wochen bin ich durch Deutschland, Holland, Belgien und Frankreich gefahren, um eine Woche im Haus meiner Eltern zu verbringen. Sich vorzustellen, dass meine Freunde in Buenos Aires immer noch im harten Lockdown sitzen, ist vollkommen unvorstellbar. Welchen Umstand macht das Tragen einer Maske im Supermarkt oder Bus, wenn ich dafür meine Freiheit genießen kann und andere schützen kann?!


Es war die richtige Entscheidung im März nach Deutschland zu fliegen. Ich bin froh, einen Job zu haben und zu wissen, dass es irgendwann wieder los gehen kann. Wie lange das noch dauern wird, kann mir niemand sagen, aber das ist auch okay, denn ich weiß, DASS ich irgendwann wieder auf dem Rad sitze und das ist ein verdammtes Glück, jetzt mehr, denn jemals zu vor!


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