„Vor zwei Tagen ist mein Vater im Mittelmeer ertrunken.“ Ich schaue in die dunklen, tieftraurigen Augen des Mannes, der vor mir sitzt. Er ist Anfang 20 und stark alkoholisiert. „Mein Papa… Tot!“, er sackt in sich zusammen und fasst sich ans Herz. Es ist die vierte Woche, in der ich bei der kleinen NGO „Samos Volunteers“ volunteere und mal wieder breitet sich ein tiefer Schmerz des Mitgefühls in mir aus. Erst gestern saß ich stundenlang am Computer und habe Neuankömmlinge in unserem System für den kostenlosen Shop registriert, in dem Leute sich Klamotten aussuchen dürfen. Es waren einige Babies dabei, ein Mann mit demselben Geburtsdatum wie ich und viele junge Menschen Anfang, Mitte Zwanzig.
Ich denke an meine Zwanziger zurück - Studium, betrunkene Berliner Nächte, Backpack-Abenteuer und fragwürdige Blondierungsstufen. Natürlich waren diese Jahre nicht nur easy going, aber sie waren irgendwie umsponnen von einem sicheren Netz. Einem Netz, das man schnell für selbstverständlich nimmt, dessen Privileg und Wert man schnell vergisst.
Für mich haben diese „Flüchtlings“Geschichten, Schlagzeilen und Zahlen jetzt Gesichter und dennoch kann ich mir nur ansatzweise vorstellen, wie es sein muss, sein Zuhause zu verlassen, weil es nicht mehr sicher ist. Aufzubrechen, in der Hoffnung, ein besseres, sichereres Leben zu finden. Sein Leben für diese Sicherheit in Gefahr zu bringen. Irgendwelchen Menschen zu vertrauen, die einen auf ein kleines Bötchen setzen und aufs offene Meer hinaus stoßen. Die Ungewissheit - werden wir es schaffen und was wird danach? Ein junger Mann erzählt mir, dass er 37 Versuche gebraucht hat, um nach Samos zu gelangen. 37 mal… Immer wieder wurde er von der sogenannten Küstenwache in illegalen Pushbacks wieder zurück Richtung Türkei gestoßen. Manchmal hat er sogar versucht zu schwimmen. Ich habe auf dieser Reise so oft das Mittelmeer überquert, bequem und sicher, mit Fähren, für den Bruchteil des Geldes, den irgendwelche Menschenschlepper verlangen. Mit meinem deutschen Pass bekomme ich in 190 der 195 Länder dieser Welt visafreien Zutritt. Aber wieso? Was ist der Unterschied zwischen mir, die zum Vergnügen reist und Menschen, deren Heimat eben nicht von einem sicheren Netz umsponnen ist.
Ich wandere durch die Überbleibsel des Dschungels, rund um das alte Camp. Aus Holz, Planen und Wellblech haben sich die Leute kleine Hütten und Zelter erbaut. Sechs Jahre lang lebten hier Menschen. Zu Hoch-Zeiten der sogenannten Flüchtlingskrise bis zu 8.000. Mitten im Dreck, umgeben von Ratten, Insekten und Schlangen. Ein junger Mann in meinem Alter erzählt: „Ich habe zwei Jahre dort gelebt! Umgeben von einer Armee von Ratten. Ich bin dort Drogensüchtig geworden. Pillen. Aber jetzt bin ich clean und habe einen Job, weil ich einen positiven Bescheid bekommen habe!“
Seit September 2021 gibt es das neue Camp, ein sogenanntes CCAC (Closed Controlled Access Centre), das erste seiner Art. Auf vier weiteren Inseln stehen oder entstehen bereits weitere CCACs, darunter auch Lesvos. Das ganze finanziert mit Geldern der EU. Ganze 260 Millionen Euro. Die Unterbringung der Menschen mag vielleicht besser sein, da sie nun in Containern leben, in denen sie besser vor Wind und Wetter geschützt sind, alllerdings sind diese Camps regelrechte Seelen zermürbende Gefängnisse. Stacheldrahtzaun, 24/7 Videoüberwachung, Einlasskontrollen wie am Flughafen, mit Scannern, Drehkreuzen und Taschenkontrollen, außerdem eine Sperrstunde zwischen 20 - 8 Uhr. Um rein und raus zu kommen, braucht man einen Ausweis, die Wartezeit, um einen Ausweis zu bekommen, liegt bei bis zu 20 Tagen, so lange sind Neuankömmlinge regelrecht im Camp gefangen. Eine ärztliche Versorgung vor Ort gibt es nicht. Ärzte ohne Grenzen, sowie jede andere NGO, darf seit Anfang des Jahres nicht mehr im Camp arbeiten. Im Schnitt liegen die CCACs 14 KM entfernt von der nächsten Stadt. Hier auf Samos sind es 8 KM. Eine Busfahrt in die Stadt kostet 1,60€, als monatliche Finanzhilfe gibt es 75€ pro Kopf. Eine Hölle.. von EU Gelder gebaut, für Menschen, die durch die Hölle gegangen sind, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Und die Zahlen sprechen für sich: 91% leiden unter Angstzuständen, 87% zeigen Symptome einer Depression und ganze 41% zeigen Zeichen von Suizidalität.
Wenn ich im Alpha Center an der Rezeption arbeite und durch den Raum schaue, ist es für mich immer noch unvorstellbar, dass jede einzelne dieser Personen mit einem Bötchen übers Mittelmeer gekommen ist. Ich frage mich, wie viele Traumata sie durchleben mussten, um hier in das nächste Trauma gestoßen zu werden. Viele Leute hängen hier tatsächlich in einem Limbo fest. Im EU-Türkei-Abkommen versicherte die Türkei Geflüchtete, die kein Recht auf Asyl haben, von den griechischen Inseln zurückzunehmen, dafür bekam die Türkei ganze sechs Milliarden Euro von der EU. Diesen Deal sitzt die Türkei seit März 2020 aus und nimmt keine von Griechenland abgeschobenen Schutzsuchenden mehr an. (Mal ganz abgesehen davon, dass die Türkei eben nicht für alle ein sicheres Land ist…)
Es gab in den letzten Wochen einige Auseinandersetzungen, teilweise sogar Schlägereien im Alpha Center. Aber kann man es den Leuten verübeln? Kann ich es einer traumatisierten Person, die keinerlei psychologische Betreuung hat, in einem gefängnisartigen Camp leben muss und vielleicht keine Hoffnung mehr hat, übel nehmen, wenn sie bei der kleinsten Auseinandersetzung explodiert?
In der ganzen Debatte um Geflüchtete und Entscheidungen der Flüchtlingspolitik, wird Menschlichkeit und Empathie einfach abgestellt. Manchmal frage ich mich, was diese ganzen Politiker‘innen machen würden, wenn sie einen Menschen im Meer entdecken würden, der gerade dabei ist zu ertrinken? Würden sie ihn erst nach seinem Pass fragen?
Manchmal scheint es mir, als würden wir einfach vergessen wollen, was hier seit Jahren passiert. Vergessen - das Selbstschutzprogramm unserer Gehirne. Das Leid, der Schmerz, das Elend, so weit weg, so unvorstellbar. Eine Zeit lang omnipräsent in den Medien und dann wieder vergessen. Der erste Schock wird zur Normalität und dann wieder Alltag. Und ich verstehe es, würden unsere Herzen sonst doch alle zerbrechen an der Verzweiflung, dass man doch eh nichts tun kann. Doch wir können etwas tun! Wir alle. Jeder von uns.
Samos Volunteers leistet dort Arbeit, wo die Politik seit Jahren versagt. Sie bieten geflüchteten Menschen safe spaces und support, sei es in Form von kostenlosem Kaffee oder Tee, dem Ausdrucken wichtiger Dokumente, einer netten Unterhaltung oder mentaler Unterstützung. Dabei steht die Gemeinschaft und Empowerment immer an vorderster Stelle. Deswegen der Reminder und die Bitte - meine Spendenaktion ist von nun an für Samos Volunteers. Jeder Euro hilft und kommt direkt bei den Menschen an. Hier spenden.
Comments