Morgens, halb sieben in Colchane, Chile - ich liege in einem warmen, gemütlichen Bett und will nicht aufstehen. Ich weiß ganz genau, dass es unter den drei Decken viel wärmer ist, als im Zimmer. Irgendwann pelle ich mich aber aus meinem Bettchen und freue mich auf eine warme Dusche, die letzte Dusche, bevor es fünf Tage lang weder Dusche, noch Hostal, Kiosk oder gar Tankstellensnacks geben wird. Voller Vorfreude drehe ich den Hahn auf, aber nichts passiert. Kein Wasser… Kein Wunder, ähnelt Colchane einem kleinen Geisterdorf auf irgendeinem Wüstenplaneten aus Star Wars.
Eine halbe Stunde später sitze ich ungeduscht auf dem Rad und geniesse die letzten vier Kilometer Asphalt unter meinen neuen Reifen. Dann biege ich auf den losen Untergrund ab, der mich - in unterschiedlichsten Zuständen und Variationen - 196 KM gen Norden begleiten wird. Genauer gesagt, ist es die “Ruta des las Vicuñas“, auf der ich durch drei Nationalparks fahren werde und 3.000 Höhenmeter hinter mich legen werde, immer irgendwo zwischen 4.200 und 4.730 Metern über dem Meeresspiegel.
Es dauert nicht lange, bis ich die ersten Alpakas und Lamas sehe. Sie stehen mitten auf der Straße und schauen mich genau so interessiert an, wie ich sie. Langsam bewege ich mich auf sie zu, es ist, als wären sie sich unschlüssig - wegrennen oder kuscheln? Doch dann springen sie den Hang hinauf, wo mich circa 15 weiterer Augenpaare mit gespitzten Ohren beobachten.
Der lose Untergrund ändert sich von Kilometer zu Kilometer. Mal tiefer Sand, durch den ich nur schwer durch komme, mal fester Kies, auf dem es sich wunderbar fährt und mal ein Mix aus allem, gepaart mit dicken, fetten Steinen und tiefen Schlaglöchern. Auch die Natur ändert sich und lässt mich einfach nur staunen.
An Steigung Nummer 125 muss ich anhalten. Meine Nasennebenhöhlen sind immer noch dicht und ich kriege nur schwer Luft. Das Atmen durch den Mund führt dazu, dass mein Rachen der Sahara gleicht und ich unfassbar viel trinken muss, um klarzukommen. Ich stehe keuchend neben meinem Rad und sehe hinter mir plötzlich einen Radfahrer. Erst halte ich ihn für einen Reisekollegen, aber an seinem Rad sind keine Taschen, nur ein kleiner Koffer klemmt hinten auf dem Gepäckträger. Es ist Miguel, ein Einheimischer, der „nur mal eben schnell“ einem Bekannten etwas vorbei bringt - immer wieder faszinierend, in was für Gegenden hier Menschen tatsächlich leben. Ich schaue auf sein Fahrrad und kann es kaum glauben. Es ist ein Singlespeed Rad mit dünnen Reifen. Miguels sonnengegerbte, faltige Haut lässt ihn älter aussehen, als er wahrscheinlich ist, dennoch bin ich beeindruckt und sage ihm dies auch. Und dann schießt er los, während ich aus dem Staunen immer noch nicht heraus komme.
Am frühen Nachmittag komme ich an meinem Tagesziel an. Einem Ruinendörfchen mit einer kleinen Kirche, direkt an der „Straße“, aber da ich den ganzen Tag nicht ein Auto gesehen habe, macht mir das nichts aus. Nach sorgfältiger Überprüfung der Windlage, schlage ich mein Zelt in einer halben Ruine, in der zweiten, also letzten Reihe auf. Dort ist ein guter Windschatten und mein Zelt und Fahrrad passen genau in die Ruine.
Um Mitternacht werde ich plötzlich von LKW Geräuschen und Männerstimmen geweckt. Mein Puls schießt in die Höhe, meine Ohren und Augen sind plötzlich hellwach und in meinem Kopf läuft ein Satz in Dauerschleife. Es ist der Satz, den Claus, der Grenz-Chef mir gestern mit auf den Weg gegeben hat: „Aber pass auf! Auf der Strecke gibt es viele Schmuggelbanden.“ Es kommen immer mehr LKWs und die Männer räumen irgendwas hin und her, während mein Herz rast und mein Körper sich keinen Millimeter bewegt. Ab und zu nicke ich ein und schrecke dann wieder auf. Gegen 3:30 fahren die LKWs endlich weg. Zwei Tage später bestätigen mir die Polizisten, bei denen ich unterkommen werde, meine Vermutung und ich lerne ein neues Wort: Contrabandista - Schmuggler.
Am nächsten Morgen starte ich früh, denn heute gibt es einen 15 KM langen Anstieg, auf 4.730 Meter. Und auch die 18 KM davor haben es in sich, die Schmuggler haben drei Fahrbahnen gebildet, die unterschiedlich kacke zu fahren sind. Ich wechsle von Fahrbahn zu Fahrbahn und irgendwie ist es, wie im Supermarkt, wenn man sich an einer Kasse anstellt und es an der anderen Kasse viel schneller geht, wenn man dann aber wechselt, verlangsamt sich an der Schlange alles, dafür geht es an der, an der man eben noch stand super schnell.
Am Berg verfluche ich den losen Sand, der mir vor allem in den Serpentinen das Leben schwer macht. Meine Nase wird immer dichter und mein Mund trocknet mit jedem Einatmen mehr aus. Doch dann schaue ich hoch und sehe diese unfassbare Natur, die alle Anstrengung vergessen lässt.
Und dann ist er da - der Salar Surire, umgeben von schneebedeckten Gipfeln. Mit dem Anblick kommt meine Freude zurück. Ich bin mutterseelenallein, habe den Nationalpark für mich. Auch am Tagesziel ist niemand zu sehen. Es ist eine Thermalquelle, in der vier Flamingos grade Wassertreten. Ich sitze kurz da und muss mich zwicken, damit ich verstehe, dass ich grade wirklich hier bin. Ein Blick auf die Uhr - 14:30. Und dann passiert ein „Typisch-Lisa-Szenario“. Option A: In einer Thermalquelle mit Flamingos abhängen. Option B: Noch 25 KM dran hängen. Natürlich habe ich mich für Option B entschieden und bin bis zu einem Flamingo-Aussichtspunkt gefahren.
Am nächsten Morgen bedeckt mein Zelt eine Eissicht. Trotz der Kälte geniesse ich die Aussicht auf den Salar, in dem hunderte Flamingos schnatternd auf und ab gehen. Ich starte den Tag langsam, denn heute wird es was die Höhenmeter angeht, entspannt. Nach wenigen Kilometern fülle ich mein Wasser bei den Carabineros, einer Polizeistation Mitten in Nirgendwo auf und dann biege ich auf die Straße ab, auf der im 20-Minuten Takt LKWs zwischen der Mine am Salzsee und der Küste Chiles hin und her fahren. Es ist seltsam, plötzlich wieder so viel Verkehr und Menschen um sich zu haben.
Gegen Mittag Baue ich plötzlich ab und ich komme nur schwer voran. Es ist, als würde die Warnlampe meines Energievorrats dunkelrot blinken. Im Schatten einer Ruine checke ich meine Komoot-App. Nur noch fünf Kilometer bis nach Guallatire, einem Dorf mit einer Polizeistation. „Du schaffst das, Lisa!“, flüstere ich mir zu. Schwerfällig steige ich auf mein Rad und fahre los. Ich muss ganze drei Mal anhalten und schaffe es mit dem letzten Funken Energie zur Polizeistation. Ein grimmiger Carabinero öffnet mir die Tür. Ich schildere ihm meine Situation, doch er scheint unbeeindruckt. „Naja, du kannst ja trampen, hier fahren ja LKWs.“ Ich sage ihm, dass diese LKWs ja voll beladen sind und keinen Platz für mich haben und frage ihn, ob ich vielleicht bei der Polizeistation campen kann. Er verneint und sagt, dass seine Kollegen gleich kommen. Den Rest verstehe ich nicht. Ich habe keine Energie mehr, um korrekt Spanisch zu sprechen, geschweige denn alles zu verstehen.
Ich sitze auf einem Stein vor der Polizeistation, als die Kollegen des grimmigen Polizisten ankommen und ihn ablösen. Und plötzlich ist alles anders. Rodrigo, der Chef, winkt mich zu sich und fragt, was los sei. Er holt mir sofort eine Decke und ein Glas Wasser. „Wann hast du das letzt Mal gegessen?“, fragt er. „So um 12.“. Rodrigo schaut auf seine Uhr und zieht die Augenbrauen hoch. „Ich hab hier einfach nie Hunger…“, sage ich leise. “Pass auf, wir kochen jetzt Spagehtti, dann isst du was und dann schauen wir, ob wir dir einen Pickup-Truck oder so anhalten können.“
Ich sitze eingemummelt neben dem Kamin und dennoch ist mir kalt. Immer wieder nicke ich ein und wache auf, wenn Rodrigo, Hugo, Hernandez, Julio oder Gabriel nach mir schauen oder mir Tee und Wasser hinstellen. Nach dem Abendessen ist es schon dunkel und Rodrigo sagt mir, dass jetzt niemand mehr vorbeifahren wird. Auf meine Frage, ob ich draussen zelten darf, schüttelt er den Kopf. „Auf keinen Fall zeltest du draussen! Wir legen dir hier eine Matratze hin, dann schläfst du hier und morgen halten wir ein Auto für dich an.“ Ich bin so unendlich dankbar, in so einer Situation, an einem sicheren Ort zu sein.
Am nächsten Tag werde ich abends von einem Touribus, der von einem Tagesausflug zum Salar zurückkehrt, mitgenommen. Der Abschied von meinen Carabineros ist innig und ich bin ein bisschen traurig. Es ist so schön, wie Fremde, die auch einfach die Tür hätten zu machen können, einem helfen und schlagartig eine Freundschaft entsteht. Es sind Freunde, die ich vielleicht nie wieder sehen, aber ganz sicher niemals vergessen werde.
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