Ich stehe am Straßenrand in Rio Grande und halte jedem Pickup Truck und LKW grinsend mein „NORTE / Buenos Aires“ Schild entgegen. Nachdem ich in Ushuaia super schnell den ersten LKW für 300 KM „klar gemacht“ habe, bin ich sicher, dass es nicht lange dauern wird. Und tatsächlich signalisiert mir ein LKW Fahrer, dass ich ihm folgen soll. Ein paar Minuten später ist mein Fahrrad hinterm Führerhäuschen und mein Gepäck unterm LKW sicher verstaut. Als ich Ernesto frage, bis wo er fährt, sagt er Buenos Aires. Ich kann mein Glück nicht fassen. 30 Minuten warten, 3.000km Mitfahrgelegenheit.
Ernesto ist ein lustiger Vogel, macht viele Witze und wir unterhalten uns ganz nett. Da Feuerland zu Teilen zu Chile und zu Teilen zu Argentinien gehört, müssen wir sämtliche Grenzposten überqueren, an denen man die Coronavirus-Panik spürt, die nun seit einigen Tagen aus Europa in Lateinamerika angekommen ist. Fragebögen zum Gesundheitszustand, vermummte Grenzbeamte, jedem Stempelgeräusch folgt das Spritzen eines Desinfektionsmittelspenders.
Vom letzten Grenzposten geht es auf die Fähre und plötzlich driften die Gespräch in eine Richtung ab, die mir nicht geheuer ist. „Wie viele Ex-Freunde hattest du?“, „Wann hattest du zum letzten Mal Sex?“. Um irgendwie abzulenken, frage ich ihn nach dem spiralförmigen blauen Schlauch, der zu einer Art Pistole führt. Es ist Druckluft. Ernesto spaßt und bläst mir Luft ins Gesicht. Am Anfang finde ich das noch lustig, doch dann holt er ständig die Pistole raus, pustet mir nicht nur Luft ins Gesicht, sondern auch auf den Körper.
Spät abends halten wir auf der niemals endenden, geraden Straße in der Pampa und Ernesto kocht extra vegane Nudeln. Ich verzeihe ihm die unangenehmen Gespräche. Doch dann ist es Zeit zu schlafen. Als ich sage, dass ich mein Zelt aus dem abgeschlossenen Gepäckfach holen will, wirkt er verärgert und verletzt. „Wieso? Du kannst hier schlafen, denkst du etwa, dass ich ein Bösewicht bin?“ „Nene! Aber... Mhm, okay, dann schlafe ich hier auf dem Beifahrersitz.“ Wieder wirkt er aufgebraust und verärgert. „Lisa, denkst du ich bin ein schlechter Mensch? Ich mach doch nichts. Ich bin kein Terrorist oder Mörder!“, „Aber du musst morgen fahren, ich nicht.“, sein Blick wird direkter „Leg dich jetzt ins Bett, du brauchst doch keine Angst zu haben!“ Beunruhigt klettere ich auf die schmale Matratze. Und plötzlich kommt auch Ernesto auf die Matratze, legt sich nah an mich und legt seinen Arm um mich. Ich nehme seinen Arm, lege ihn bei ihm ab und sage, dass ich das nicht will. „Warum nicht?“, sein Arm schlingt sich wieder um meinen Bauch. „Weil ich das nicht will!“, erneut lege ich seinen Arm zurück, der sofort wieder zurück kommt. „Wieso nicht?“
Ich drehe mich auf die Seite, presse meinen Körper so doll an die Wand, doch Ernesto rückt mir jeden Zentimeter hinter her. Ich spüre seinen Körper an meinem. Tausend Gedanken rasen durch meinem Kopf. Was soll ich tun? Wird er vielleicht aggressiv, wenn ich mich wehre oder versuche zu flüchten? Er säuselt mir ins Ohr, sagt, dass er mit mir nach Deutschland will. Immer und immer wieder versuche ich seinen Arm von mir zu kriegen, ohne Erfolg. „Warum nicht? Bin ich zu dick? Was ist falsch an mir?“ Ich friere ein, tue so als würde ich schlafen, in der Hoffnung, dass die Nacht schnell vorbei ist und es beim Umarmen bleibt. Doch er fängt an meinen Bauch zu streicheln und reibt sich an meinem angespannten Körper. Irgendwann gibt er auf, sagt er fährt noch ein paar Kilometer, ich könne ruhig weiter schlafen.
Nach ein paar Stunden wache ich auf. Ernesto ist wieder da und seine Hand liegt nun nicht mehr "nur" auf meinem Bauch. Ich schrecke auf, nehme seine Hand von meiner Hose und keife ihn an, er soll es lassen. Er presst sich an mich, seine Hand wandert über meinen Körper. Ich stoppe ihn, doch eine Sekunde später ist seine Hand wieder da. „Ich will das nicht!“, brülle ich so sehr mein Körper, der noch halb im Tiefschlaf hängt, es zulässt. „Warum nicht?!“ Ich presse mich gegen die Wand, doch es gibt kein Entkommen. „Ich will mit dir schlafen!“, stöhnt er in mein Ohr. „Ich will das nicht!“ sage ich, den Tränen nahe. „Aber ich hab dich doch auch mitgenommen...“ Plötzlich nimmt er meine Hände, reisst mich auf den Rücken, legt sich auf meine Beine, reibt sich an mir, versucht mich zu küssen. Ich schreie, versuche mich aus seinem Griff zu lösen, was mir nach einer gefühlten Ewigkeit gelingt. Ich presse mich gegen die Wand und schluchze in meine Hände.
Als wäre irgendein Schalter umgelegt, umarmt er mich und sagt, ich solle keine Angst haben, er würde ja nichts machen. Er legt sich an mich, und legt seinen Arm um mich. Ich friere ein, versuche zu verdrängen, was grade passiert. Mehrmals fragt er, ob ich schlafe. Ich liege dort, wie ein Stein und gebe kein Wort von mir. Irgendwann dreht er sich auf den Rücken und fängt an, an sich selbst rum zu spielen. In meinem Kopf versuche ich kilometerweit weg zu sein. Es ist, als würde auf dieser Matratze grade nur eine Hülle liegen, als hätte mein Gehirn eine Art Schutzmechanismus für die Psyche eingeleitet. Am nächsten Morgen entkomme ich endlich seiner Umklammerung.
„Was machst du?“, „Ich muss mal pinkeln“. Ich schnappe mir meine Schuhe und springe aus dem LKW. Als ich auf die kilometerweite, leere Landschaft starre, weiß ich, dass ich auf ihn angewiesen bin. Zumindest bis zur nächsten Stadt, die jedoch auch mehrere hunderte Kilometer entfernt ist.
Zurück im LKW tut Ernesto so, als wäre nichts passiert. Er kocht Tee und kündigt die Abfahrt an. Es folgen über 12 Stunden Hölle. Meine Augen füllen sich ständig mit Tränen, ich bin emotional am Ende und fühle mich gleichzeitig, als wäre ich innerlich leer. Wir fahren über endlose Straßen, durch die endlose Leere der Pampa, ich sage kein Wort, entweiche seinen Blicken und lache nicht über seine Witze. Es ist, als wäre ich gar nicht in der Lage zu lachen. Mein Körper fühlt sich leblos an.
Stundenlang denke ich darüber nach, was ich anders hätte machen können, ob ich ihm eine reinhauen hätte können und wie ich ihm jetzt entkommen kann. Frage mich, wieso manche Männer so sind, warum sie kein „Nein“ akzeptieren, sondern einen zu Rechtfertigungen zwingen, die sie dann eh ignorieren. Warum er da so sitzen kann, als wäre nichts passiert, als hätte er nicht tausende Grenzen auf einmal überschritten. Meine Augen brennen von den ganzen Tränen, die ich entweder unterdrücke oder heimlich zum Fenster gedreht tonlos von mir lasse.
Irgendwann sagt er, dass er nicht nach Buenos Aires fährt, dass es irgendwelche Änderungen gibt und er mich in Sierra Grande, 1.200km südlich von Buenos Aires, absetzen muss. Dass es dort eine Tankstelle gibt, an der ich zelten könne. Ich frage nicht wieso, bin einfach nur erleichtert, dass endlich ein Ende in Sicht ist. 'Nur noch 400km, du schaffst das, Lisa!'
Er umarmt mich zur Verabschiedung, automatisch versteinert mein ganzer Körper. Als er weg ist, eile ich zur Tankstelle, um zu fragen, ob ich dort zelten kann. Es ist bereits nach Mitternacht und ich fühle mich so erschöpft, wie nach 180km Radfahren. Vorm Eingang der Tankstelle liegen zwei schwarz-weiß gepunktete Hunde, die mir in die Büsche folgen, hinter denen ich campen kann. Da dort aber extrem viel Müll rum liegt, beschließe ich zur Tanke auf der anderen Straßenseite zu gehen, die Hunde folgen mir auf Schritt und Tritt. Hinter dem Gebäude ist ein kleiner Park mit Tischen und Grills. Obwohl meine zwei Begleiter von fünf anderen Hunden vom Zaun aus extrem aggressiv angebellt werden, bleiben sie bei mir, während ich in Windeseile mein Zelt aufbaue.
Als ich den Reißverschluss meines Zeltes zu ziehe, breche in Tränen aus. Irgendwann schlafe ich erschöpft ein. Am nächsten Morgen ist klar, dass ich auf keinen Fall weiter per Anhalter fahren will, sondern zum Busschalter gehen werde. Als ich aus meinem Zelt steige, liegen dort die zwei Hunde. Auch als ich zur anderen Tankstelle gehe, um zu duschen, weichen sie nicht von mir und warten vor der Tür auf mich. Als ich mein Wasser zahlen will, spricht mich ein LKW Fahrer an, fragt ob ich aus Europa komme. Fragt mich, was ich zu Coronavirus zu sagen habe und wie lange ich schon im Land sei. Er folgt mir nach draussen, fragt mich, wo ich hin will und wo ich her komme. Mein Herz schlägt schneller, ich will weg, aber auch nicht unhöflich sein. Meine Kehle schnürt sich zu. Ich nehme mein Fahrrad, sage ihm, dass ich los muss und fahre, gefolgt von den Hunden, über die Straße zum W-Lan der anderen Tankstelle. Dort rufe ich meine beste Freundin an. Dass der Fahrer komisch sei, hatte ich ihr zwar mitgeteilt, aber was alles passiert war, wollte ich ihr nicht sagen, damit sie sich nicht noch mehr Sorgen macht.
„Wie war das denn jetzt?“, fragt sie. Ich breche in Tränen aus und erzähle ihr, was passiert ist. Es fühlt sich gut an, endlich diesen Druck von meiner Brust zu bekommen, gleichzeitig breitet sich der Schmerz immer weiter in mir aus. Wenn man es dann mal ausspricht, wird das, was passiert ist wirklich real.
Die Hunde und ich gehen zum Busunternehmen. Als ich auf die Straße abbiege, zieht sich alles in mir zusammen. Direkt vor der Filiale steht der LKW geparkt. Die Gardinen sind zugezogen, ich husche ins Büro und frage nach dem Bus. „Heute um 15 Uhr, aber das Fahrrad können wir da nicht mitnehmen und du hast keinen Karton, wir können es also nicht mit dem Transporter hinterher schicken.“ Ich schaue verzweifelt in die Augen des jungen Mannes. In meiner Kehle breitet sich ein Feuer aus, das ich nicht länger unterdrücken kann. Tränen schießen mir in die Augen. Ich erkläre in einigen Worten, was passiert ist, dass der LKW draussen steht und warum ich einen Bus brauche. Lucas schaut mich erstaunt an, steht auf, schließt die Tür, streicht mir kurz über die Schulter, sagt ich sei hier sicher und reicht mir ein Glas Wasser. „Ich schaue nochmal nach einem Karton!“
Schluchzend schaue ich aus der Fensterfront, mein Blick wandert vom LKW zu den Hunden, die vor der Tür in der Sonne liegen. Lucas findet tatsächlich einen Karton, der groß genug ist, allerdings fast auseinander fällt. Ich schraube Lenker und Sattel ab und löse den Vorderreifen. Lucas fragt mich währenddessen nach meiner Reise. Mein Spanisch ist normalerweise nicht all zu schlecht, aber es ist, als wäre mein Gehirn immer noch eingefroren und es fällt mir schwer zu sprechen. Weder ich, noch Lucas kriegen die Pedale gelöst und da ich keine Kraft mehr habe, stecken wir das Fahrrad so wie es ist in die Box. Während ich immer wieder los schluchze, versucht Lucas den Karton etwas mit Klebeband zu verstärken.
„Aber er hat dich nicht vergewaltigt? Dich nicht ausgezogen?“, erschöpft schüttel ich den Kopf. „Na, dann ist doch nichts passiert. Beruhig dich mal!“, ich bin zu müde, um auszurasten und diesem Mann zu erklären, wie sich das anfühlt, wenn man einem Mann ausgesetzt ist. Wie es ist, nachts begrapscht zu werden, wie es sich anfühlt, wenn man nicht weiß, was man machen soll, wenn ein klares "Nein" einfach ignoriert wird und auch wenn er nicht zu dem gekommen ist, was er wollte, die Situation traumatisierend und schlichtweg grauenvoll ist.
Wie ein emotionaler Zombie laufe ich mit meinen treuen Begleitern zum Supermarkt. Immer wieder fange ich an zu heulen. „Stell dich nicht so an, ist ja nichts passiert!“, denke ich mir und heule noch mehr. Ich brauche gefühlte Ewigkeiten, um die paar Sachen zu kaufen, die ich für die 18 Stunden Busfahrt brauche. Nicht zu lange für die Hunde, die brav am Eingang auf mich warten und mich wieder zu ihrer Tankstelle begleiten, wo ich mich vor Ernesto verstecke und darauf warte, dass das Busbüro wieder aufmacht.
Ich bedanke mich via Whatsapp bei Lucas für die Hilfe, der sagt, dass er alles daran setzt, dass mein Fahrrad so schnell wie möglich in Buenos Aires ankommt. Mittlerweile quillt der Gruppenchat von Radreisenden in Süd Amerika über, an Nachrichten über Grenzschließungen und Aufrufen, sofort den Kontinent zu verlassen. Für mich ist das alles zu viel. Ich will die Welt kurz auf Pause stellen, um mal Luft zum Atmen zu haben. Aber so geht es leider nicht.
Eins ist klar, weder ein gieriger LKW Fahrer, noch ein scheiß Virus, können mich stoppen. Ich muss versuchen Stärke aus der Situation zu ziehen. Ich denke an all die guten Ereignisse der letzten sieben Monate... Als ich am ersten Tag mit einem kaputten Rad am Straßenrand stand und ein netter Kolumbianer mich bis nach Guatapé durch die Nacht mit dem Fahrrad begleitet hat. Oder William, der mich aufgepickt hat und mich zu seiner Ranch gebracht hat. Der nette LKW Fahrer, der mich im Sandsturm an der peruanischen Küste aufgepickt hat und bis nach Lima mitgenommen hat. Ich rufe diese Momente auf, sauge alles Positive aus ihnen heraus, auch wenn es schwer fällt.
Das war Pech, zur falschen Zeit, am falschen Ort. So, wie als ich auf der chilenischen Autopista über den einen Millimeter des 1,5m breiten Seitenstreifens gefahren bin, auf dem ein minidünner Draht lag, der meinen Reifen durchlöchert hat. Ich werde mich von diesem Arschloch nicht unterkriegen lassen, werde ihm nicht die Macht geben, dass ich meinen positiven Mindset und mein Glauben an das Gute im Menschen verliere. Erst Recht werde ich durch ihn nicht meine Überzeugung verlieren, dass Frauen genau so reisen können, wie Männer. Und ich werde keinem Mann das Recht geben, Vorfälle wie diese als "Ist doch nichts passiert" abzustempeln.
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