Mit gefüllten Provianttaschen und fünf Litern Wasser fahre ich in Chorogh los und verabschiede mich für drei Tage von Zivilisation, Supermärkten und Mobilfunknetz. Auf der M41 fahre ich, länger als erwartet, durch winzige Dörfer, in denen Kinder mich voller Freude grüßen. Sie sind auf dem Weg zur Schule. Auch hier oben tragen sie schicke Uniformen. Ich genieße die grünen Oasen entlang des Flusses, morgen wird es auf 4.300 Meter Höhe gehen, wo die Farbe Grün nicht wirklich existiert. Egal wohin ich schaue - riesige, schneebedeckte Berge. An einem türkisen See mache ich Pause. Ich sitze einfach nur da und starre auf die Natur. Mein Herz platzt regelrecht, während mir Freudentränen die Backen herunter kullern.
Vor der Mittagspause (Rest vom gestrigen Abendessen), fahre ich zufälligerweise an einem kleinen Kiosk vorbei. Ich frage nach Wasser, aber er alte Mann schüttelt den Kopf und bietet mir stattdessen eine riesige Flaschen Limo an. Dankend lehne ich ab. Es schüttelt mich regelrecht beim Gedanken daran, den ganzen Tag nur Zuckerplörre zu trinken. Wenige Kilometer vor meinem angepeilten Wildcampspot finde ich dann aber einen Kiosk, an dem ich meine Wasserreserven auffüllen kann. Und dann verlasse ich wirklich die Zivilisation und schlage mein Zelt zwischen Straße und Fluss im Gebüsch auf. Es ist erste Mitte Mai und die Tourisaison fängt erst so langsam an. Zwar habe ich tagsüber in meiner kurzen Radhose nicht gefroren, aber jetzt, da die Sonne langsam untergeht, wird es recht frisch. Die Lust draussen etwas zu kochen schwindet und ich mixe faul und anspruchslos wie ich bin, Proteinpulver und Haferflocken mit Wasser, schnibbel einen Apfel hinein und runde das Festmahl mit etwas Erdnussmus ab. Nachdem ich aufgegessen habe bereite ich dieselbe Portion fürs Frühstück vor - wie gesagt, ich bin bei Essen sehr anspruchs-, wenn nicht sogar lieblos.
Nach einer ruhigen Nacht starte ich, von den Haferflocken gestärkt, in die Bergetappe. Heute muss ich über den Koi-Tezek Pass, auf fast 4.300 Meter Höhe. Mein angepeilter Wildcampspot liegt circa 115 KM entfernt - eine Strecke, die für mich kein Problem ist, aber in Anbetracht der Höhenmeter und dass ich bereits auf 3.000 Metern Höhe starte, ist es schon eine sportliche Strecke. Durch wunderschöne Berglandschaften arbeite ich mich Meter für Meter hoch und irgendwann hört schlagartig der Asphalt auf. Dort, wo vorher zwar marode, aber mit dem Fahrrad angenehm befahrbare Fahrbahn war, ist jetzt ein Mix aus Sand, Kies und Steinen. Die Steigung wird steiler, die Luft spürbar dünner und ich langsamer. Weit und breit nur mein Fahrrad und ich... auf dem Dach der Welt. Es ist schlichtweg nicht in Worte zu fassen, wie sich das anfühlt, diesen Moment nur für sich alleine zu haben. Doch dann erblicke ich einen LKW ein paar Serpentinen höher. Als ich im Windschatten des LKWs halte, kommt ein junger Mann aus dem Führerhäuschen und fängt direkt an mich auf russisch vollzulabern. Der LKW ist kaputt und er ruht sich ein bisschen aus. Nach einer kleinen Fotosession - wir zusammen, ich mit dem Fahrrad, wir zusammen mit dem Fahrrad, ich mit dem Fahrrad vorm LKW - fahre ich weiter. Die letzten Kilometer des Pass und dann endlich 15 KM bergab. Nach der letzten Serpentine eröffnet sich mir eine Landschaft, die fast unecht aussieht. Die sandige Straße, umgeben von gefrorenem Schnee, der einem Meer aus Eisbergen gleicht. In der Ferne ploppen aus diesem Schneemeer Gipfel hervor, die wie Sahnehäubchen auf einer Torte in den knallblauen Himmel ragen. Ich halte an, um diese Landschaft zu bewundern und merke erst jetzt so richtig, was für einen starken Rückenwind ich habe. Danke Wettergott!
Meine Vorstellung, wie ich mit 50 KMh auf der anderen Seite des Berges herunter bretter, wird allerdings recht schnell zertrümmert. Die Straße ist immer noch in einem grauenvollen Zustand und zwingt mich fast konstant zum Bremsen. Mit 8 KMh schleiche ich den Berg hinunter, weiche Schlaglöchern und riesigen Steinen aus und nehme trotzdem einige Schläge mit. Nach einer gefühlten Ewigkeit dann endlich wieder Asphalt, doch die Freude hält nicht lange an. Und so kämpfe ich mich von löchrigem Asphalt zu holprig-rutschigem Erdweg und von kurzen Abfahrten zu unerwartet langen und steilen Steigungen.
Mein Wasservorrat wird langsam knapp und meine Energiereserven nähern sich dem Ende. Doch ich gebe nicht auf. Die Straße wird endlich besser und ich brettere tatsächlich mit 40 KMh Richtung Campspot. Auch die Umgebung ändert sich. Plötzlich kann ich Kilometerweit schauen und alles sieht aus wie gemalt. Zu perfekt, um wahr zu sein. Ein türkise See, umgeben von Salz und Sand, dahinter ein Panorama aus schneebedeckten Bergen. Ich freue mich so sehr, dass ich die Rillen in der Straße, die mir und meinem Vorderrad alle paar Minuten einen Schlag geben, komplett ignoriere. Das High gibt mir so viel Energie, dass ich am einzigen Haus weit und breit vorbeifahre, obwohl ich hier laut meiner App auch hätte schlafen können. Die Energie wird jedoch wieder gedimmt, als sich vor mir ein Berg aufbaut und der Wind plötzlich nicht mehr mein Freund, sondern mein Feind ist und mir ununterbrochen ins Gesicht pustet. Mittlerweile habe ich den Punkt erreicht, an dem ich mich fühle, als hätte meine Seele meinen Körper verlassen.
„Nur noch 16 KM, Lisa! Dann ist da ein Fluss, dann kannst du trinken und essen! Und im Zelt chillen!“, ich wiederhole die Worte wie ein Mantra immer und immer wieder, während ich weiter in die Pedale trete. Beim Fahren scanne ich die Umgebung nach potentiellen Campspots ab. Doch es gibt nichts wind-, und sichtgeschütztes, also fahre ich weiter und versuche die brennenden Schmerzen im Schritt zu ignorieren. Leise jammere ich vor mir her und rede mir selbst gut zu. Als ich den Wildcampspot erreiche, wird mir schnell klar, dass die Person, die den Spot in die App eingetragen hat, entweder besoffen war, oder ein Mann, dem es egal ist, ob sein Zelt zu sehen ist oder nicht. Auf der Straße gibt es zwar nicht viel Verkehr, aber es ist immer noch die LKW Verbindung nach China. Verzweifelt fahre ich also weiter, schaue nach links und nach rechts, steige ab, inspiziere die Umgebung, steige heulend wieder aufs Fahrrad und will einfach nur noch in meinem Zelt liegen. Endlos fünf Kilometer später finde ich endlich eine Art Kuhle, die zwar nicht super windgeschützt ist, dafür aber vor LKW-Fahrern versteckt. Eine halbe Stunde später sitze ich in meinem Zelt und pelle mich aus meinen Radklamotten. 9,5 Stunden im Sattel haben ihre Spuren hinterlassen, die ich vorsichtig mit Vaseline bestreiche, während ich bete, dass morgen wieder alles okay ist.
Die Energie reicht mal wieder nur für Haferflocken, Proteinpulver, vermischt mit sehr wenig Wasser, da ich nur noch circa 500 ML habe. Der Strom des Flusses ist durch das Schmelzwasser so stark, dass das Wasser nicht klar ist. Ich kann es also nicht mit meinem UV-Filter behandeln. Da ich aber nur sechs KM von Alichur, einem Dorf in the middle of nowhere, entfernt bin, verfalle ich nicht in Panik. Wahrscheinlich hätte ich an diesem Punkt auch gar nicht mehr die Energie, um in Panik zu verfallen. Also werfe ich ein paar Datteln in mein trockenes Porridge und klatsche ordentlich Erdnussbutter drauf. Nach dem „Festmahl“ verkrieche ich mich in meinem Schlafsack und penne direkt ein.
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