Ich sitze auf der Dachterrasse meines Hostels in Valparaíso, an der chilenischen Küste und genieße die Ruhe. Im „Abhängraum“ laufen Frank Sinatras größte Weihnachtshits, Musik, die im selben Moment wahrscheinlich auch bei meiner Familie läuft. Doch ich konnte es nicht genießen, musste flüchten, weil sich mein Herz auf die Größe einer Weintraube zusammen gezogen hatte. Und nun sitze ich hier und putze meine Fahrradketten – Beschäftigungstherapie, um bloß nicht daran zu denken, dass meine Familie gerade am Weihnachtsbaum sitzt und Geschenke austauscht.
Ich bin kein Mensch der großartig Heimweh hat, aber ich bin ein Mensch, der Weihnachten fast so sehr liebt, wie seine Familie. Auch wenn viele Leute Weihnachten und alles, was damit zusammenhängt hassen (zum Teil auch zurecht), hat Weihnachten diese magische Superkraft, Menschen zusammen zu bringen. Ich zähle auch im Stadium „Ü30“ noch die Tage, bis es über Weihnachten in die Heimat geht. Wenn ich in Berlin zu absolut unchristlichen Zeiten in den ICE nach Marburg gestiegen bin, habe ich in mir immer diese kindliche Vorfreude verspürt, habe mich auf meine Eltern, Brüder, Hund und Katze gefreut, auf das dekorierte Haus meiner Eltern, das Feuerchen im Ofen, die Familientraditionen und das Treffen all dieser Freunde, die man seit Ewigkeiten kennt, aber immer nur an Weihnachten sieht.
Und nun sitze ich hier, genau 12.162,39 km entfernt von diesem dekorierten Haus, dieser wundervollen Familie, all den Freunden, in der prallen Sonne. Und obwohl ich es mir so ausgesucht habe und es sich bei 30 Grad im Schatten auch gar nicht nach Weihnachten anfühlt, werde ich traurig. Ich schwelge in Erinnerungen der vergangenen Weihnachtsfeste und muss grinsen. So viele schöne Momente sind auf der unkaputtbaren Festplatte meines Gehirns abgespeichert.
Plötzlich reißt mich mein Handy aus der Zeitreise. Unfassbar laut und schrill trötet es vor sich hin. Auf dem Display eine Pushnotification mit riesigem, roten Warnsymbol. Auf spanisch steht dort etwas von Waldbrand und Evakuierung. Nachdem das Handy zum dritten mal trötet und nun auch andere Hostelgäste verstört auf ihr Handy schauen oder panisch auf die Dachterrasse gerannt kommen, finde ich nach einer kurzen Recherche heraus, dass nicht all zu weit entfernt auf einem der vielen Hügel Valparaísos mehrere Häuser brennen. Am Ende es Tages sind es 150. 150 Familien, die an Heiligabend ihr Zuhause verloren haben. Meine Stimmung ist sowieso schon seltsam, da ich am Vortrag an einem Hostel im nicht so schönen Teil der Hafenstadt angekommen war. Überall Müllberge, seltsame Gestalten, ein Mann, der mitten auf der Straße stand, die Hände in die Luft gestreckt, wild wedelnd, irgendwelche Verschwörungstheorien in den Straßenverkehr brüllend. Da mein inneres Warnsystem mir ein unwohles Gefühl gegeben hatte, war ich am nächsten Tag umgezogen, in einen der Hügel, wo sich Hostel an Hostel reiht und alle fünf Meter einem ein Restaurant, Café oder Kiosk irgendwas verkaufen will. Die happy Touri-Blase, umgeben von Slums.
Abends gibt es ein gemeinsames Weihnachtsessen. Die vielen Reisenden, die hier für Kost und Logi arbeiten, haben vorher noch groß angekündigt, dass es auch vegane Optionen geben würde. Als ich nach dem ersten Bissen des Currys mit der Gabel in der Hand tanzend „Yeah vegan“ singe, weisen die Volunteers mich darauf hin, dass es nicht vegan sei, aber „nur ein bisschen Milch und ein bisschen Sahne“ dran sei. Mein Weihnachtsessen 2019: Reis, ein paar Salatblätter und eine Dose Kichererbsen aus meinen eigenen Vorräten. Ich bin umgeben von Leuten, die nur unterwegs sind, um sich möglichst billig die Rübe weg zu saufen und koksen, was sie nach dem Essen auch machen. Gott sei Dank habe ich vorher Jarrod aus Australien getroffen, der den ganzen Zirkus genau so kritisch und genervt beobachtet, wie ich.
Wie so oft frage ich mich, wie das sein kann, dass hier Leute in der happy Touri-Blase sitzen können, während ein paar Ecken weiter Menschen auf der Straße schlafen. Valparaíso wird oft als schönste Stadt Südamerikas bezeichnet und lockt zahlreiche Touristen an, gleichzeitig ist es auch eine der ärmsten Städte Chiles. Als ich ein paar Tage später aufbreche, fahre ich an mehreren Häuser aus Brettern, Kartons, Matratzen und Europaletten vorbei. Beim Reisen geht es so viel mehr, als Happy Hour Deals und günstige Souvenirs, es geht darum, den eigenen Blick wieder grade zu rücken, beziehungsweise zu erweitern. Zu verstehen, dass es viel mehr gibt, als die eigene Komfortzone, dass Dinge wie eine Toilettenspülung, eine warme Dusche und ein Dach überm Kopf eben nicht selbstverständlich sind, sondern als Luxus gesehen werden können.
Danke, an alle, die über Weihnachten gespendet haben! Und die, die noch einen Grund gesucht haben, warum sie spenden sollten. Vielleicht ist er jetzt da.
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